Tanz und WahnSinn / Dance and ChoreoMania

 

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I. Enthusiasmus und Ekstase: Historische, kritische und theoretische Perspektiven zur Geschichte des Wahns im Tanz // Enthusiasm and Ecstasy: Historical, Critical and Theoretical Perceptions on the History of Mania in Dance


Alexander Schwan
Tanz, Wahnsinn und Gesetz. Eine kritische relecture von Pierre Legendre und Daniel Sibony

[german]

Alexander Schwan


Tanz, Wahnsinn und Gesetz.
Eine kritische relecture von Pierre Legendre und Daniel Sibony


Für den französischen Juristen und Psychoanalytiker Pierre Legendre („La passion d´être un autre. Étude pour la danse,“ Paris 1978) ist die christlich-abendländische Disziplinierung des Tanzes absolut. In jeder aufrechten Haltung der Tanzenden und in jeder Ordnung der Choreographie perpetuiert sich ein „Gesetz“, eine allgemeine Regulierung der Körperlichkeit, die im Gegenzug das Nicht-Normierte als illegitim ausschließt. Was nicht sein darf – das Sich-Wälzen von Körpern auf dem Boden, der Genuss der Horizontalen, der Kontrollverlust der Ekstase – wird als Symptom von Krankheit und Wahnsinn diffamiert. Dabei ist das Gesetz auf versteckte Weise der Produzent des Ausgeschlossenen, indem das Verrückte durch den Ausschluss zuallererst hervorgebracht wird. Das gesetzeskonforme Ballett auf der Bühne und die Zuckungen in der Psychiatrie stehen so in einem wechselseitigen Zusammenhang: Nur weil die Körperbilder des Zappelns und Zitterns, der Tics und wilden Ausbrüche in der Psychiatrie konzentriert und weggesperrt werden, ist die Feier des Schönen und vorgeblich Gesunden, Nicht-Wahnsinnigen möglich. Legendres Ansatz steht so in Beziehung zur Verhältnisbestimmung von Gesetz und Tanz bei Daniel Sibony („Le corps et sa danse,“ Paris 1995). Beide Theoretiker teilen die Nähe zur Psychoanalyse Jacques Lacans und gewinnen von ihr die Denkfigur eines allgemeinen Gesetzes („la loi“). Während aber Legendre das Gesetz vorwiegend negativ als Striktion und Verhinderung wilder Körperlichkeit zu konzipieren scheint, sieht Sibony das Gesetz in einer noch umfassenderen Paradoxalität, die neben der Bindung auch die Ermöglichung von Subjektivität beinhaltet. Der Wahnsinn („la folie“) ist kein Residuum gesetzesfreier Naturalität, sondern ereignet sich wie der Tanz immer „devans la loi“. Von wenigen kurzen Paraphrasierungen abgesehen (Gerald Siegmund, „Abwesenheit“, Bielefeld 2006) ist Legendres und Sibonys Denken bisher kaum im deutschsprachigen Bereich der Tanzwissenschaft rezipiert worden. Eine genaue relecture dieser Gedanken im Hinblick auf das besondere Verhältnis von Wahnsinn, Tanz und Gesetz steht daher noch aus und wird hier erstmals zusammen mit einer differenzierten Kritik der Grundannahmen und Konsequenzen erarbeitet.

 

 

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(c) 2011 Johannes Birringer & Josephine Fenger, editors

Leipzig: Henschel Verlag, 2011.paperback,€ 24.90, ISBN-10: 3894877103

This book project is supported by

Gesellschaft für Tanzforschung (GTF)

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